Fortschrittsversprechen von Big Data
Mit Big Data werden revolutionierende Umschwünge in der Wissenschaft, der Wirtschaft, dem Gesundheits- oder Polizeiwesen, der Politik und der persönlichen Lebenswelt sowie in vielen weiteren gesellschaftlichen Feldern erwartet und verbunden.1 In der Welt der Wissenschaft wird Big Data nicht nur in eine Reihe gestellt mit Paradigmen wie etwa der Kybernetik, der Gentechnologie oder den Neurowissenschaften, mit denen eine Art universelle Erklärungsallmacht assoziiert wird, sondern gleichzeitig in Zusammenhang mit einem „Ende der Theorie“, welches durch die vermeintliche Selbstaussagekraft der Daten zustande kommt. Ähnlich hochgegriffene Potenziale verspricht man sich von Big Data in der Wirtschaft, in welcher neue Formen der Marktforschung, der Vertriebs- und Servicesteuerung, der Werbung oder der Mitarbeiterauswahl etabliert werden könnten. In der Medizin sollen neue Methoden des digitalisierten Gesundheitswesens Krankheiten vor allem über Korrelationen zwischen Verhaltensweisen und deren gesundheitlichen Auswirkungen erklären. Im Polizeiwesen schließlich entsteht mit dem Predictive Policing (vorhersagende Polizeiarbeit) ein neuer methodischer Ansatz der vorhersehenden Kriminalitätsbekämpfung, welcher andere bürgernähere Ansätze wie etwa das Community Policing oder das Problem-Oriented Policing ergänzt bzw. ablöst. Auch in der Politik können Entscheidungen zunehmend auf der Grundlage von Erkenntnissen aus Big-Data-Analysen getroffen werden. Dies führt zu spezifischen Legitimationsproblemen, da dadurch statt Personen des politischen Systems prinzipiell intransparente Computersysteme zu Entscheidungsträgern werden. Schließlich beeinflusst Big Data auf vielfältige Weise auch die persönliche Lebenswelt der Nutzer*innen informationstechnischer Systeme, etwa, wenn über Big-Data-Analysen die Personalisierung von Diensten und Plattformen vorangetrieben und verfeinert wird. Dadurch werden immer personalisiertere Ergebnisse bei Suchmaschinen oder Werbeanzeigen, passende Musik- oder Filmempfehlungen, Kaufangebote oder auch Partnervorschläge bei der Online-Partnersuche angezeigt.
Diese Beispiele bilden nur einen kleinen Ausschnitt aus den potentiellen Auswirkungen und Einflüssen von Big Data auf die Informationsgesellschaft. Möglich werden diese Auswirkungen und Einflüsse, grob gesprochen, aus der aktuellen Technikentwicklung, aus der Ubiquität der Erhebung, Verarbeitung und Verbreitung großer Datenmengen. Big Data umfasst beispielsweise personenbezogene Verhaltensdaten, Daten aus sozialen Netzwerken, Daten über persönliche Interessen und Einstellungen, demografische Daten, Standortdaten, Daten über Transaktionen und Kaufverhalten und vieles mehr. Big Data steht aber nicht nur als Bezeichnung für jene großen Datenmengen, sondern meint immer auch eine Auswertung dieser Daten – mitunter auch als „data mining“ oder „knowledge discovery in databases“ (Wissensentdeckung in Datenbanken) bezeichnet.2 Dabei besteht ein wesentliches Ziel der Datenauswertung darin, Muster respektive Korrelationen in Datenbanken zu erkennen, um dadurch Wahrscheinlichkeitsprognosen für zukünftige Ereignisse oder unbekannte Merkmale zu tätigen. Dadurch wiederum kann etwa die situationsbezogene Assistenzleistung digitaler Medien in verschiedensten Lebensbereichen gesteigert sowie deren Funktion als Ergänzung und Erweiterung körperlicher und geistiger Fähigkeiten ausgebaut werden.
Beispiel: Big Data als Zukunftsthema der Informationswirtschaft
Zum Themenfeld Big Data veröffentlichte eco, der Verband der Internetwirtschaft, bislang nur Stellungnahmen, welche die Chancen von Big Data für Marketing oder Mobilität hervorheben oder sich mit den technischen Herausforderungen beschäftigen. Privatheit und Risiken durch Big-Data-Anwendungen werden hingegen nicht thematisiert. Im Vorfeld der Finalisierung der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung 2015 wandte sich hingegen der Bitkom, ein deutscher Industrieverband, der 2300 Unternehmen aus dem Bereich der digitalen Wirtschaft vertritt, mit Stellungnahmen und konkreten Formulierungsvorschlägen an die Bundesregierung, um die Interessen ihrer Mitglieder im Gesetzesvorhaben berücksichtigt zu sehen. Dem Bitkom zufolge solle das Hauptziel der Neuregelung des Datenschutzes in der EU im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung von Big-Data-Anwendungen sein, „den europäischen Unternehmen zu ermöglichen, neue Technologien einzusetzen und innovative Datenverarbeitungen zu entwickeln“. Der Bitkom fügt zwar an, dass „gleichzeitig die Privatsphäre und das Persönlichkeitsrecht der EU-Bürger“ geschützt werden“ soll, aber es ist nur eine untergeordnete Bedingung und nicht das Ziel der Einflussnahme durch den Bitkom. Dies lässt sich deutlich als Forderung nach wirtschaftsfreundlicheren Regelungen bewerten, die „das Datenschutzrecht nicht überfrachten“ sollen, die europäischen Unternehmen in ihren Möglichkeiten der Datennutzung nicht gegenüber anderen Weltregionen benachteiligen sollen, und generell die „stark verbraucherlastige Sicht“ des Justizministeriums durch eine unternehmensorientierte Sichtweise wieder ins Lot rücken sollen. Hierzu gehöre auch, dass eine nachträgliche Zweckänderung der Datennutzung möglich werden muss, dass die Einwilligungspflichten nicht zu streng gestaltet und eher entschlackt werden, und dass die Pflicht zur Anonymisierung auf ein verhältnismäßiges Maß begrenzt wird. Auf die in der Präambel der EU-Datenschutz-Grundverordnung genannte Notwendigkeit des Schutzes der Bürger*innen geht der Bitkom im ausführlichen Teil der Stellungnahme nicht mehr ein. Auch in weiteren Leitfäden und Handreichungen des Bitkom werden v.a. der wirtschaftliche Nutzen von Big Data hervorgehoben und Hilfen zur Anwendung und Umsetzung von Big-Data-Analysen gegeben. An anderer Stelle bemerkt Peter Langkafel, Geschäftsführer der HCB Healthcubator GmbH, auf der Webseite des Bitkom im Hinblick auf die Befürchtung eines gläsernen Patienten durch Big-Data-Anwendungen im Gesundheitswesen, dass ein gläserner Patient nicht das Problem sei, sondern dass „Wir […] die Daten davor schützen [müssen], NICHT benutzt zu werden“. Hiermit werden Probleme und Gefahren von Big-Data-Anwendungen sehr bewusst delegitimiert, da eine Verweigerung der Datennutzung gleichgesetzt wird mit der Verweigerung zur Rettung von Menschenleben.
Boyd, Danah and Crawford, Kate (2012): Critical Questions for Big Data, Information, Communication & Society 15(5): 663; Burkhardt, Marcus (2015): Digitale Datenbanken. Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data. Bielefeld: Transcript.; Kitchin, Rob (2014b): The real-time city? In: GeoJournal 79 (1), S. 1–14.; Manovich, Lev (2014): Trending. Verheißungen und Herausforderungen der Big Social Data. In: Ramón Reichert (Hg.): Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie. Bielefeld: Transcript, S. 65–83.; Mayer-Schönberger, Viktor; Cukier, Kenneth (2013): Big Data. A Revolution That Will Transform How We Live, Work, and Think. New York: Eamon Dolan.; Reichert, Ramón (Hg.) (2014): Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie. Bielefeld: Transcript.; Vayena, Effy; Salathé, Marcel; Madoff, Lawrence C.; Brownstein, John S. (2015): Ethical challenges of big data in public health. In: PLoS Comput Biol 11 (2), S. 1–7. ↩︎
Vedder, Anton (1999): KDD: The challenge to individualism. In: Ethics and Information Technology 1 (4), S. 275–281. ↩︎